\“Im Jahr 1546 oder 1548 hat der französische Autor Étienne de La Boétie eine \“Abhandlung über die freiwillige Knechtschaft\“ geschrieben. Er hat damit eine vielzitierte Formel geprägt, die die Freiwilligkeit mit der Knechtschaft verbindet: die paradoxe Mischung eines freiwilligen Zwangsverhältnisses.
Wie kann es sein, fragt Étienne de La Boétie, dass so viele Menschen, ganze Dörfer, Städte, Völker einen einzigen Tyrannen erdulden? Und seine Antwort lautet: Der Herrscher hat nicht mehr Macht, als man ihm gibt. Auch der Tyrann nicht. Er hat nur so viel Macht, wie man ihm zugesteht.\“
So beginnt Isolde Charim ihren Beitrag in der österreichischen Wochenzeitung \“Falter\“ vom 14.9.22: \“Das Geheimnis der Herrschaft liege also im Einverständnis der Beherrschten. Die Unterdrückten akzeptierten ihre Unterdrückung freiwillig. Das ist die paradoxe Lektion, die La Boétie seinen Zeitgenossen gibt.\“
Was hat das mit uns – hier und heute – zu tun? Es ist ganz spannend, sich anzuschauen, in welche Bedingungen wir uns heute fügen:
\“Die These dieses Buches lautet: Narzissmus ist die Art, wie wir uns heute freiwillig unterwerfen. Narzissmus ist das Gegenteil einer ausgeprägten, selbstgewissen Eigenliebe. Das ist keineswegs selbstverständlich, gelten doch Narzissmus und Egoismus im Alltagsverständnis als gleichbedeutend.
Beim Narzissmus steht aber nicht das Ich im Zentrum, sondern das Ich-Ideal, das eine eigene Instanz der Psyche ist. Narzissmus ist der Bezug zu diesem Ideal, das uns das Bild des besseren Ichs vorgibt. Dieses ist, wie es bei Freud heißt, \“im Besitz aller wertvollen Vollkommenheiten\“. Als Ideal ist es nicht nur für immer uneinholbar. Es verweist das Ich auch in eine ewige Unzulänglichkeit.
Narzissmus bedeutet also freiwillige Unterwerfung unters Ich-Ideal. Freiwillige Unterwerfung unter die höhere Form des Ichs. Freiwillige Unterwerfung unter das Bild von \“sich\“, mit dem man nie übereinstimmen wird. Welches man aber ständig zu verwirklichen sucht.\“
Diese Dynamik setzt also voraus, dass unser eigentliches \’Ich\‘ als ewig unzulänglich erlebt wird. Alles, was uns in diesem Zustand erstrebenswert erscheint, verdichtet sich in diesem Ich-Ideal, dem wir uns anzugleichen suchen. Diese Angleichung nennt die Autorin die narzisstische Befriedigung, die einzig aus diesem Ich-Ideal kommen kann. Die Auswirkung ist die, dass wir ständig Getriebene, Unzufriedene, Angespannte sind, außer… Ja, was hebt uns aus dieser Anspannung heraus?
Unsere Bedürfnisse schlummern in dem Fall irgendwo, das einzige, was zählt, sind die narzisstisch bedeutsamen Belohnungen.
Sich selbst zum Zentrum, zum Maßstab seiner Welt, zum Kriterium von gut und schlecht zu machen, bedeutet somit auch: alles zum Anlass, zur Gelegenheit fürs eigene Ich zu nehmen. Allem in der Welt mit der Frage begegnen: Was macht das aus mir? Was kann ich dadurch sein? Das zeitgenössische Leitmotiv.
Isolde Charim
\“Im Erfolg, in jedem Erfolg, wird man (kurzfristig oder anhaltend) zur Verkörperung seines Ideals. Im besseren Fall wird man zur Inkarnation – im schlechteren Fall zum \“Darsteller seines Ideals\“, wie man mit Nietzsche sagen könnte.
Im Erfolg, in der Aufmerksamkeit, im Lob, im Applaus wird man als Verkörperung des Ideals wahrgenommen. Von daher rührt auch das Triumphgefühl, das sich in solchen Momenten einstellt: Es ist der Triumph, seinem Ideal-Ich zu entsprechen – ob dies nur ein Aufblitzen oder anhaltender ist. Dieses Triumphgefühl ist die \“narzisstische Befriedigung\“. Man gewinnt sie aus der bestätigten Erfüllung des Ich-Ideals.\“
Im Alltag bedeutet dies, dass sich das ganze Leben um die mögliche Verkörperung eines Ideals dreht. Dieser intensive Fokus auf unser vermeintliches wirkliches und eigentliches Selbst. Die Autorin benennt mit dem Ausdruck \’Unterwerfung\‘ unser Streben, auf dem Weg zu Erfüllung des Ideals alle Möglichkeiten der Selbstoptimierung, Anpassung und Angleichung vorzunehmen. Damit wird unser Leben einer ganzen Menge von Regeln und Vergleichswerten unterworfen. Und das völlig freiwillig!
\“Wobei die Befriedigung, die wir aus den Regeln ziehen, ein erstaunliches Moment hat. Solche Regeln der Lebensführung sind häufig an Übungen, Wiederholungen, Training, Diäten gebunden. Hier bekommen die Qualen des Narzissmus eine besondere Bedeutung. Denn Üben bedeutet immer auch ein Sich-Quälen. Und genau das wird hier produktiv: Man spricht den Qualen Sinn zu. Nicht nur den Sinn einer realen Verbesserung, einer Steigerung – sondern auch jenen einer Beglaubigung. Die Qualen des Übens, das Quälende meiner Regeln beglaubigt die Annäherung ans Ideal.
Wir haben hier eine bemerkenswerte Situation: Die Regeln, die uns quälen, sind auch die Regeln, die uns eine verschobene Erfüllung garantieren -das Erreichen des Ideals. Von daher rührt unser leidenschaftliches Verhaftet-Sein, unsere libidinöse Besetzung, ja unsere Obsession mit Regeln, Anleitungen, Plänen aller Art. Wir sind ja besessen von Regulierungen, Quantifizierungen, Messbarkeiten, Leitfäden. Denn sie sind uns Mittel des Ideals.\“
Eine zentrales Organ auf diesem Weg ist unsere Möglichkeit des Vergleichens und Bewertens. \’Gut\‘ oder \’schlecht\‘ bedeutet in dem Fall: Zum Ideal passend bzw nicht passend. \“So ist das ethisch Gute in Zeiten des Narzissmus zu einer erlaubten Selbstbejahung geworden. Wenn gut aber das ist, was meiner Natur entspricht. Wenn gut das ist, was meine Identität befördert, dann verhandeln wir mit gut-schlecht immer auch das, was ich bin: Man isst nicht nur Fleisch, man ist Fleischesser. Man fährt nicht nur Rad, man ist Radfahrer.
Dann aber bedeutet die Unterscheidung gut-schlecht nicht nur: Was ist gut für mich? Sondern auch: Bin ich gut? Oder nicht? Dann stehe Ich stets auf dem Spiel.
Die narzisstische \“Moral\“ ist nicht nur eine erlaubte Selbstbejahung, sondern auch eine geforderte Bekräftigung der – stets prekären – eigenen Identität.\“
Wer sich weiter in diesen – wie ich finde – großartigen Beitrag vertiefen möchte, findet ihn hier: Charim 2022
Einen paradoxen Gegenspieler findet der Narzissmus in dem Megatrend der Individualisierung und Personalisierung. Wir meinen tatsächlich, in diesem Prozess an Autonomie zu gewinnen! Autonomie ist ein ganz wesentlicher Parameter von Kohärenzgefühl und dem Erleben von Sinn im Leben. Dabei spielen wir immer mit demselben Thema: \“Was bringt mir das?\“ – Was macht das aus mir? Was kann ich dadurch sein?