Sinn-Erleben und Palliative Care

Spiritualität und existenzielle Not

\“Als Begründer der Existenziellen Psychotherapie stützt sich Irving Yalom auf die Existenzphilosophie und unterscheidet zwischen kosmischem und irdischem Sinn.

Kosmischer Sinn bezieht sich auf einen Sinnentwurf, der außerhalb der eigenen Person liegt, also auf eine göttliche Ordnung des Universums. Irdischer Sinn (von Yalom auch als Zweck bezeichnet) meint den Sinn, den der einzelne Mensch seinem Leben gibt, unabhängig von der Existenz eines kosmischen Sinns.

Die existenzialistische Position zur Sinnfrage lautet: Es gibt keinen kosmischen Sinn. Der Mensch ist zwar ein sinnsuchendes Wesen, jedoch in eine sinnlose Welt hineingeworfen. Für diesen Widerspruch hat Camus den Begriff der „Absurdität der menschlichen Existenz“ geprägt.

Auch Yalom geht von der Sinnlosigkeit der Welt aus. Sein darauf aufbauendes therapeutisches Rational lässt sich in drei Schritte untergliedern:

Zunächst gilt es, das Niederschmetternde der Absurdität zu würdigen: Weil der Glaube, dass die Welt und das eigene Leben sinnlos sind, zu tiefer Entmutigung führen kann, würde es im therapeutischen Gespräch zu kurz greifen, die Sinnlosigkeit nur rational festzustellen. Stattdessen wird gemeinsam ausgelotet, welche emotionalen Konsequenzen diese Sichtweise für das Gegenüber hat. Dem Empfinden von Ernüchterung, Perspektivlosigkeit, Demotivation oder Verzweiflung wird Raum gegeben. Die Absurdität der menschlichen Existenz ist aus existenzieller Perspektive kein lösbares Problem, sondern eine zu akzeptierende Tatsache. Deshalb müssen sich Beratende hier mit eigenen Sinnvorschlägen („Aber immerhin haben Sie Kinder!“) zurückhalten. […].

Wenn die emotionale Verarbeitung der Absurdität ausreichend Raum hatte, wird – zweitens – zu der Frage übergegangen, ob das Leben auch ohne absoluten Sinn geführt werden kann. Patient*innen setzen sich in diesem Schritt mit der Frage auseinander, welchen irdischen Sinn sie ihrem Leben angesichts fehlenden kosmischen Sinns geben können. Mit den Worten Camus‘ geht es darum, zu einem „Trotzdem“ zu finden. Hier wird deutlich, dass der Existenzialismus eine Philosophie des Engagements ist.

Entsprechend regen wir – drittens – unsere Patient*innen an, ihren Sinn im Handeln zu verwirklichen. Trotz Krankheit und extrem reduzierter Handlungsmöglichkeiten geht es in dieser Phase darum, mit Patient*innen Werte zu identifizieren, an denen sie ihr verbleibendes Leben ausrichten wollen.\“ (Lang 2022)

Lebenssinn und Palliative Care

\“Viele Definitionen und Konzepte von Lebenssinn (meaning in life  – MiL) beziehen sich auf die theoretischen Arbeiten von Viktor Frankl, dessen persönliche Geschichte als Überlebender der nationalsozialistischen Konzentrationslager ihn dazu veranlasste, die \“Logotherapie\“ zu entwickeln. Frankl definiert Sinn als die Manifestation von Werten, die über drei Hauptwege erfolgt:

  • Kreativität (z. B. Arbeit, Taten, Engagement für eine Sache),
  • Erfahrung (z. B. Kunst, Natur, Humor, Liebe, Beziehungen, Rollen) und
  • Einstellung (die eigene Haltung gegenüber Leiden und existenziellen Problemen).

Er stellt die Hypothese auf, dass Lebenssinn präexistent ist und vom Individuum entdeckt werden kann. Andere Forscher beschreiben Lebenssinn als ein persönliches Konstrukt, das aktiv konstruiert oder geschaffen wird.[…]

In der Palliativmedizin ist Lebenssinn in letzter Zeit zu einem zentralen Element psychotherapeutischer Interventionen geworden. Patienten mit begrenzter Lebenserwartung, deren Lebenssinn aufrechterhalten wird, sind immer noch in der Lage, ihr Leben als lebenswert zu betrachten. Es wurde jedoch ein ausgeprägtes psychiatrisches Syndrom beschrieben, das als \“Demoralisierung\“ bezeichnet wird und bei dem der Verlust von Sinn und Hoffnung potenziell jeden Sinn für ein lohnendes Leben und eine lohnende Zukunft zunichte machen kann. Ein Mangel an Lebenssinn ist häufig mit dem Wunsch verbunden, den Tod zu beschleunigen, oder mit einem Antrag auf aktive Sterbehilfe.\“ (Fegg ua 2008, übersetzt, gekürzt)

Eine Möglichkeit das Empfinden oder Erleben von Lebenssinn zu messen, ist das Instrument \’Schedule for Meaning in Life Evaluation (SMiLE)\‘. \“Im SMiLE werden die 3–7 wichtigsten Lebensbereiche – sie entsprechen hier den eingangs definierten Lebensbedeutungen – erfragt und anschließend für jeden Lebensbereich Zufriedenheit und Relevanz numerisch eingeschätzt. Patient*innen stufen am Lebensende häufiger als Gesunde die Bereiche Partnerschaft, Freundschaft, Freizeit, Spiritualität, Natur/Tiere und Freude als bedeutsam ein. Ihre Zufriedenheit in diesen Bereichen ist gleich hoch wie bei Gesunden.\“ (Lang 2022)

In einer Studie aus dem Jahr 2008 zu den wichtigsten Lebensbereichen, die den Befragten Sinn gaben, zeigten Palliativ-Patient:inn:en diese Reihung (Fegg ua 2008, übersetzt, gekürzt):

  1. Familie
  2. Partner
  3. Freizeit
  4. Freunde
  5. Gesundheit
  6. Tiere/Natur
  7. Religiosität
  8. Arbeit
  9. Haus/Garten
  10. Finanzen
  11. Wohlbefinden
  12. Altruismus
  13. Hedonismus

Natürlich sind Lebensbedeutungen und Lebenssinn sehr individuelle Erfahrungen. Für das persönliche Erkunden von Lebenssinn als eine Ressource, um das Leben interessant, lebenswert und schön (vgl Kohärenzgefühl) zu erleben, können die Erfahrungen von Lebensbedeutungen hilfreiche Brücken in Gesprächen am Lebensende sein.

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